Ein nie versiegender Quell (stimmt leider nicht)
Am 26. August 1974 saß beim Eröffnungskonvent, meinem ersten Schultag am Goldberg-Gymnasium, eine Frau mit einer Art Dutt neben mir: „Wo kommet Sie denn her? Was, aus Tübinge!? Da müsset Sie fei weit fahre!“
Dorothee war gerade 41 Jahre alt geworden, ich war 27. Und mir war an diesem Tag klar, dass uns eine unüberwindbare Generationenschranke trennen wird. Da habe ich mich getäuscht, sie wurde im Laufe der Jahre immer jünger, unkonventioneller – und wie engagiert! Bei jedem Schul- und Kollegenfest war sie umtriebiger und zugleich ruhender Pol; sie war Personalrätin, Begleitlehrerin bei zig Schullandheimen und Studienfahrten, sie hat Kleider für die Theater-AG genäht. Nebenher hat sie noch Italienisch gelernt, Theater gespielt und sich in der Friedensbewegung der 80er Jahre engagiert.
Zeit ihres Lebens hat sie in ihrem verwinkelten Geburtshaus in der Friesenstraße unterhalb des Goldberg-Abhangs gewohnt. Das stand stets und ohne Ankündigung für alle wortwörtlich offen: Sie hat selten abgeschlossen. Dort war sie Dutzende Male Gastgeberin für Übernachtungsgäste, ein ganzes Panoptikum aus anderen Schulen und Ländern. Und wie oft hat sie ganze Gruppen, ob aus Schule oder Partnerstädten, bewirtet!
Oder der 17. Dezember 1994, die große Demo gegen den Bundesparteitag der rechtsradikalen Republikaner: Die Stadt brauchte im Vorfeld jemand, der die Gesamtverantwortung incl. Haftung übernimmt. Dorothee hatte keinerlei Erfahrung auf diesem Gebiet; sie hat diese Aufgabe/Last spontan – ich dachte damals: leichtfertig – übernommen, zum Glück ging alles gut. Sie war einfach und fraglos da, wenn man sie brauchte (besser: wenn sie spürte, dass man sie brauchte).
Vor allem habe ich bewundert, wie sie das alles machte. Für Dorothee hatte der Tag 27 Stunden, mindestens. Und nie, wirklich nie, habe ich erlebt, dass sie bei aller Hektik um sie herum die Nerven oder ihre gute Laune verloren hätte. Ihr Lachen habe ich noch im Ohr, sie hat sehr gern gelacht. Im Unterschied zu mir war sie niemals kurz angebunden, schon gar nicht am Telefon. Wenn sie beim Telefonieren mit mir (ich bin ein schlechter Telefonierer) merkte, dass es mir zu viel wurde, sagte sie „ja ja ja“, und ich konnte ohne allzu schlechtes Gewissen auflegen.
1986 hat die Klasse 9b des Goldberg-Gymnasiums oberhalb von Dachtel gezeltet (Dorothee und ich waren Begleitpersonen), eine Schülerin hat dabei einen Ring verloren, die einstündige Suche der ganzen Klasse auf der sportfeldgroßen ungemähten Wiese war erfolglos. Bis Dorothee zu Hilfe gerufen wurde. Innerhalb von 30 Minuten hatte sie den Ring gefunden. „Wie hast du das denn hingekriegt?“ – „Man muss dran glauben, dass man es schafft.“ Das war Dorothee Bühler.
Schon vor 20 Jahren habe ich gewusst: Wenn man die Angst vor dem Alter verlieren, wenn man zuversichtlich und engagiert bleiben will, dann soll man sich Dorothee Bühler zum Vorbild nehmen. Am 5. Oktober ist sie mit 89 Jahren gestorben. Dorothee war einmalig.
Michael Kuckenburg (1974 bis 2012 Lehrer am Goldberg-Gymnasium